Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie musste alles schnell gehen – vor allem die Entwicklung von Arzneimitteln, um schwere Krankheitsverläufe zu verhindern. Doch wie sollte das gelingen? Schließlich vergehen von der Idee bis zum zugelassenen Medikament erfahrungsgemäß 12 bis 15 Jahre. Der Pharmakonzern Pfizer setzte damals auf digitale Werkzeuge, um die Prozesse zu beschleunigen. Supercomputer halfen bei der Suche nach den richtigen Molekülen. Mit Künstlicher Intelligenz wurden riesige Mengen an Patientendaten für klinische Studien analysiert und Lieferketten optimiert. Das Ergebnis: Von der ersten Synthese des Hauptwirkstoffs im Labor bis zur Massenproduktion des Coronamedikaments Paxlovid dauerte es gerade einmal 18 Monate.
Mittlerweile ist die Digitalisierung aus den Life Sciences nicht mehr wegzudenken. In Forschung und Entwicklung, wo seit Jahrzehnten Daten auf höchstem Niveau genutzt werden, gilt sie als Gamechanger, um Innovationen schneller voranzutreiben und Kosten zu sparen. Andere Branchen aus der Prozessindustrie wollen das ebenfalls erreichen – und investieren dafür kräftig: Mit mehr als 18 Milliarden Dollar förderten Chemieunternehmen 2024 weltweit ihre Digitalisierungsprojekte, schätzen Marktforscher von Research and Markets. 2030 könnten es sogar 60 Milliarden Dollar sein. Wie in der Life-Science-Industrie wird das Marktumfeld schwieriger, es bedarf einer rasanteren Produktentwicklung, stabilerer Lieferketten und neuer, digitaler Geschäftsmodelle. B2B-Plattformen sollen beispielsweise weitere Kundengruppen erschließen, die Kundenbindung erhöhen und so den Absatz steigern. Verheißungsvolle Visionen, für die Unternehmen tief in die Tasche greifen.
Testphase als Dauerzustand
Sind allerdings „nur“ die klassischen Digitalisierungsziele der Industrie 4.0 betroffen, fließen die Investitionen spärlicher. Etwa wenn es darum geht, durch automatisierte Abläufe, digitale Prozesssteuerung und vorausschauende Wartung Produktionsfehler zu reduzieren, Stillstände zu vermeiden und Betriebskosten zu senken. Das Automatisierungsunternehmen Rockwell Automation hat dazu weltweit 1.500 Führungskräfte befragt. Das Ergebnis zeigt, dass die Prozessindustrie noch weit von einer umfassenden Digitalisierung ihrer Anlagen entfernt ist: 2025, also mehr als ein Jahrzehnt nach Ausrufung der vierten industriellen Revolution, setzen dem „State of Smart Manufacturing Report“ zufolge nur 20 Prozent der Unternehmen in größerem Maßstab auf Industrie-4.0-Technologien. In Sachen Digitalisierung gleicht die Prozessindustrie also einer Großbaustelle, auf der es nicht so richtig vorwärts geht. Zeit für einen Blick hinter den Bauzaun, um Antworten auf die drängendsten Fragen zu suchen: Weshalb sind verfahrenstechnische Anlagen nicht in der Breite digitalisiert? Warum ist das Gerüst der Transformation so wacklig? Und: Entpuppt sich hier ein Traumhaus etwa als Luftschloss?
Fakt ist: Viele Unternehmen der Prozessindustrie stecken seit Jahren im „Pilot Purgatory“, im Fegefeuer der Pilotprojekte. Sie starten viele Einzelmaßnahmen, um verfügbare digitale Technologien zu testen – vom IIoT über Cloudlösungen bis hin zum Digitalen Zwilling. Doch diese Pilotprojekte bleiben oft isoliert und lassen sich nicht skalieren und in eine breite Anwendung überführen. Das Weltwirtschaftsforum WEF hatte dieses Phänomen bereits 2018 beschrieben. Und bis heute hat sich nicht viel geändert: In der erwähnten Studie von Rockwell Automation geben 56 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sie aktuell Pilotprojekte durchführen – weitere 20 Prozent haben noch gar nichts getan, planen aber künftige Investitionen.
Schlüsselfaktoren
56 %
der Unternehmen in der Prozessindustrie führen aktuell Industrie-4.0-Pilotprojekte durch.
Schlüsselfaktoren
20%
der Unternehmen in der Prozessindustrie setzen Industrie-4.0-Technologien in größerem Maßstab ein.
Schlüsselfaktoren
95%
der Unternehmen in der Prozessindustrie investieren schon in KI oder haben das vor.
Mangelnder Wille
Weshalb sich Unternehmen generell mit einer umfassenden digitalen Transformation schwertun, weiß Dr. Wilhelm Otten. „Neben den technologischen Barrieren liegt das vor allem an der starken funktionalen Orientierung in den Unternehmen und am Management der Veränderungsprozesse. Es fehlt nicht nur am Können, sondern oft auch am Wollen – und manchmal schlicht am Dürfen in der Unternehmenshierarchie“, sagt der Berater, der im Verein Deutscher Ingenieure das Interdisziplinäre Gremium Digitale Transformation leitet.
Eine gemeinsame Studie der Management- und Technologieberatung BearingPoint und der Hochschule München aus dem Jahr 2024 gibt ihm Recht: Sie zeigt auf, dass das Engagement der Chefetage für das Thema Digitalisierung eng mit dem Implementierungsstand der Industrie 4.0 in der Produktion korreliert. Besonders die Integration von Industrie 4.0 und vernetzten digitalen Wertschöpfungsprozessen in die Unternehmensstrategie wird als wichtiger Erfolgsfaktor erachtet. Zudem, so die Studie, komme es auf die richtige organisatorische Herangehensweise und die Einbindung der Mitarbeitenden an. Für eine erfolgreiche Umsetzung von Digitalisierung müssten Technologie, Mensch und Organisation in Einklang gebracht werden.
Die zentrale Frage
In der Praxis konzentrieren sich die meisten Unternehmen im Augenblick meist nur auf den Aspekt der Technologie. Und was noch fataler ist: Viele Digitalisierungsinitiativen werden als Technik- oder IT-Projekte konzipiert, bei denen vor allem verbesserte Funktionen im Fokus stehen, nicht jedoch deren eigentlicher Nutzen. „Was ist der Mehrwert für mein Geschäft?“, lautet dagegen die zentrale Frage für das Beratungsunternehmen McKinsey. Diese bleibt oft genauso unbeantwortet wie die Frage, was die konkreten Ziele und Kriterien sind, an denen der Erfolg der digitalen Transformation gemessen werden soll. Zu einem ähnlichen Schluss kommt das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie in Aachen. Aus dessen Sicht fällt es vielen Unternehmen schwer, das Wertschöpfungspotenzial von Industrie 4.0 für ihre eigene Produktion zu bewerten – entsprechend zaghaft wird dann investiert. Um einen nachhaltigen Mehrwert zu generieren, empfiehlt der Report von Rockwell Automation den Unternehmen, sie sollten jene Anwendungsfälle identifizieren und priorisieren, die Probleme in der Produktion und im Betrieb lösen – und einen schnellen Return on Investment versprechen.
Dass sich Digitalisierung in kleinen, fokussierten Schritten lohnt, betont auch Dr. Rolf Birkhofer, Geschäftsführer von Endress+Hauser Digital Solutions. Denn: Der Nutzen und damit auch die eingesetzte Technologie kann sich für jede Anwendungsart unterscheiden. „In kleinen Anlagen sparen Betreiber beispielsweise durch die Fernüberwachung von Messstellen Geld, indem sie Vor-Ort-Einsätze vermeiden können. In größeren Anlagen konnten wir bereits sehr erfolgreich nachweisen, dass sich das Management der installierten Feldgerätebasis schnell auszahlt.“ Auch für Rolf Birkhofer gilt: „Digitalisierung ist dann gelungen, wenn eine Lösung dauerhaft genutzt wird – und sich in der erwarteten Zeit amortisiert.“
Das große Ganze zählt
Der Digitale Zwilling im Anlagenbau ist so ein Beispiel. Mit ihm lassen sich Anlagen virtuell planen, simulieren, optimieren. So setzt etwa Coca-Cola in seinem Hightech-Werk in Istanbul Digitale Zwillinge ein, um jede Phase der Abfülllinie virtuell abzubilden. Simulationen helfen dabei, Engpässe, Maschinenausfälle oder Effizienzverluste frühzeitig zu erkennen und verschiedene Szenarien durchzuspielen. Dadurch wird Ausschuss reduziert, der Energieverbrauch gesenkt und Geld gespart.
Doch das volle Potenzial des Digitalen Zwillings bleibt in vielen Unternehmen ungenutzt. Der Grund: Die dafür benötigten Daten liegen meist fragmentiert vor – verteilt auf unterschiedliche Systeme, Formate und Zuständigkeiten. „Der Digitale Zwilling funktioniert nur, wenn Daten über den gesamten Lebenszyklus verfügbar sind“, sagt Hans-Joachim Fröhlich, Director Technology and Portfolio bei Endress+Hauser. „Heute fehlt diese Durchgängigkeit – oder die Daten passen nicht zusammen.“
Und hier wird es knifflig: Nicht jeder, der Daten akribisch sammeln und aufbereiten soll, zieht einen direkten Nutzen aus dieser Arbeit. „Die gesamte Organisation muss daher ein gemeinsames Verständnis der abteilungsübergreifenden Geschäftsprozesse haben“, erklärt Wilhelm Otten. Die durchgängige Integration von Daten – über funktionale Silos hinweg – ist bei fast allen Industrie-4.0-Anwendungen eine Grundvoraussetzung, um Pilotprojekte skalieren zu können. „Die Digitalisierung in der Prozessindustrie geht auch deshalb so langsam voran, weil die nötige Interoperabilität noch nicht gegeben ist. Daten können noch nicht barrierefrei ausgetauscht werden, weder innerhalb von Unternehmen noch zwischen Unternehmen“, sagt Hans-Joachim Fröhlich.
Hoffnungsträger mit zwei Buchstaben
Die gute Nachricht: Die Prozessindustrie ist sich dieser Hausaufgaben bewusst – und erledigt sie. Intern konzentrieren sich 69 Prozent der befragten Unternehmen laut BearingPoint und Hochschule München derzeit auf die vertikale Integration zur Beschaffung von Daten. 58 Prozent setzen dazu Cloud-Lösungen um. Ebenso wird mit Partnern entlang der Wertschöpfungskette an der Standardisierung gearbeitet: Zum Beispiel in Organisationen wie der Industrial Digital Twin Association und der Open Industry 4.0 Alliance. Und bei der Entwicklung von Ethernet-APL, einer neuen Kommunikationsinfrastruktur für die Feldebene, mit der sich große Datenmengen sehr schnell übertragen lassen, wurde in der Prozessindustrie auf eine standardisierte und interoperable Lösung geachtet.
In den nächsten Monaten könnte zudem noch mehr Bewegung in die Sache kommen. Denn zum einen steigt der Handlungsdruck – durch zunehmenden Wettbewerb, strengere regulatorische Anforderungen, belastete Lieferketten, den immer drängenderen Fachkräftemangel und die Notwendigkeit von mehr Cybersicherheit. Und zum anderen könnte sich Künstliche Intelligenz (KI) als Turbo der Digitalisierung erweisen. Nach den Erfolgsmeldungen aus der Pharmaindustrie, siehe Pfizer, gilt die Technologie vielen Unternehmen als Allheilmittel: 95 Prozent der Firmen der Prozessindustrie investieren schon in KI und Machine Learning oder planen Investitionen in den kommenden fünf Jahren, sagt der Rockwell-Automation-Report. Als besonders verheißungsvolle Anwendungsfälle gelten Qualitätskontrolle, Cybersicherheit – und Prozessoptimierung: KI soll helfen, besser, sicherer, effizienter und damit nachhaltiger zu produzieren.
Um das Potenzial von KI auszuschöpfen braucht es eine solide Datenbasis und durchgängige Datenströme. Investitionen in die Digitalisierung werden für Unternehmen deshalb unumgänglich – auch als Fundament für weitere Zukunftstechnologien. „Der industrielle Wandel gewinnt an Fahrt“, sind sich deshalb die Verfasser des „State of Smart Manufacturing Report 2025“ sicher.