Herr Yigitdöl, wie oft haben Sie heute schon digitale Dienste in Anspruch genommen?
Ekrem Yigitdöl: Bei mir starten morgens meine Smart Services. Über Sprachsteuerung sage ich meinem Haus, was es tun soll, je nachdem, ob ich den Tag über unterwegs bin oder im Home-Office arbeite. Bin ich unterwegs, kommuniziere ich mit meinem Auto. Es sucht die wichtigen Nachrichten für mich raus und fasst Aufgaben des Tages zusammen. Das funktioniert alles reibungslos.
In unserem Alltag funktioniert die Digitalisierung, ohne dass jemand die Anbieter koordiniert. Warum braucht die Prozessindustrie eine Organisation wie die Open Industry 4.0 Alliance, um in die Gänge zu kommen?
Ekrem Yigitdöl: Zum einen, weil die Wissensstände sehr unterschiedlich sind. Ein Unternehmen ist bereits recht weit, ein anderes ist noch nicht gestartet. Wir verstehen uns als ein Wissens-Ökosystem. Als eine Community, in der Know-how und Erfahrungen geteilt werden. Zweitens ist das Industrie-Umfeld dann doch wesentlich komplexer als die B2C-Welt, in der ich mit smarten Uhren, Häusern und Autos unterwegs bin.
Peter Selders: Für unsere Kunden hat die Sicherheit ihrer verfahrenstechnischen Anlagen oberste Priorität. Etliche Branchen sind zudem stark reguliert. Deshalb muss die Prozesssteuerung jederzeit unbeeinflusst von digitalen Anwendungen bleiben. Wir müssen also einen sicheren, unabhängigen Kanal für digitale Gerätedaten bieten. In den Anlagen, die oft schon jahrzehntelang in Betrieb sind, benötigen wir eine Infrastruktur für die digitale Kommunikation und müssen das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten sicherstellen. Denn in allen Anlagen sind Geräte und Systeme verschiedener Hersteller verbaut.
Inwiefern kann hier die Open Industry 4.0 Alliance helfen?
Peter Selders: Egal, ob es um Cybersecurity, Integration oder Interoperabilität geht – gute Antworten für unsere Kunden finden wir nur gemeinsam mit anderen Herstellern, da diese Themen immer das gesamte System betreffen. Es braucht für die Digitalisierung der Prozessindustrie ein offenes technisches Ökosystem, also Standards, Schnittstellen, Architekturen und Innovationen, hinter denen möglichst viele Gerätehersteller, Anlagenbauer, Softwareunternehmen und Systemintegratoren stehen. Je mehr Unternehmen dabei sind, desto besser für unsere Kunden.
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Ekrem Yigitdöl
ist seit Oktober 2021 Geschäftsführer der Open Industry 4.0 Alliance. Er verantwortet die operative Führung des Schweizer Vereins und der deutschen GmbH mit Sitz in München, der Betreibergesellschaft des Vereins. Zudem leitet er das Business Development sowie die Verbindung zur Implementation GmbH, einer Tochtergesellschaft der OI4, die deren Mitglieder bei der Umsetzung industrieller Digitalisierung unterstützt. Zuvor arbeitete Yigitdöl beim Technologiekonzern Voith in verschiedenen Leitungspositionen. Seit 2024 ist er Mitglied im Europäischen Wirtschaftssenat, einem eingetragenen Verein mit Büros in München, Berlin und Brüssel. In dieser Rolle engagiert sich Yigitdöl als Berater für EU-Gremien.
Endress+Hauser ist nicht nur Mitglied der Open Industry 4.0 Alliance, sondern hat sie mit ins Leben gerufen. Wie ist es dazu gekommen?
Peter Selders: Vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe prägt das Selbstverständnis unseres Unternehmens – wir wissen, dass wir so Mehrwert für unsere Kunden schaffen. Aus dieser Haltung heraus haben wir auch die OI4 mitgegründet: Wir möchten gemeinsam mit anderen Unternehmen die Digitalisierung unserer Branche vorantreiben. Denn das Kernversprechen der Industrie 4.0 – mehr Effizienz durch vernetzte Prozesse – lässt sich nur in starken Netzwerken verwirklichen. Genau dafür bietet die Alliance eine Plattform.
Welchen konkreten Mehrwert schafft die Open Industry 4.0 Alliance heute?
Ekrem Yigitdöl: Sie ermöglicht, dass die verschiedenen Unternehmen mit einer Stimme sprechen. Um zu verstehen, wie wichtig das ist, muss man sich klarmachen, wie sehr sich die digitale Wirtschaft in eine neue Richtung entwickelt. Noch vor zehn Jahren war es üblich, dass digitale Anbieter für ihre Unternehmenskunden maßgeschneiderte Lösungen entwickelt haben. Heute rechnet sich das nicht mehr. Die Anbieter können sich diese Vielzahl von Optionen für verschiedene Kunden nicht mehr leisten. Um eine Lösung zu bekommen, müssen sich die Unternehmen mit Marktbegleitern zusammentun, die ähnliche Fragestellungen haben. Das verlangt nach Offenheit.
Sind die Unternehmen aus Ihrer Sicht dazu bereit?
Ekrem Yigitdöl: Das Umdenken findet bei immer mehr Firmen statt. Es hat sich herumgesprochen, um was es bei der OI4 geht: Nämlich, dass die Mitglieder untereinander gemeinsame Fragestellungen erörtern und Lösungen schaffen – ohne dabei schützenswertes Wissen preisgeben zu müssen.
Gewinnen Kooperationen und Allianzen in der Prozessindustrie allgemein an Bedeutung?
Peter Selders: Für mich ist Kooperation ein Schlüssel, um bei den großen Themen der Prozessindustrie voranzukommen, sei es die Digitalisierung oder die nachhaltige Transformation. Es geht darum, voneinander zu lernen, Dinge miteinander weiterzuentwickeln, gemeinsam zu wachsen. Wenn wir mit anderen zusammenarbeiten – egal, ob jetzt auf der Ebene einer Open Industry 4.0 Alliance oder mit einzelnen Partnerunternehmen – dann bedeutet das immer auch Aufwand und Anstrengung. Wir müssen uns einbringen, etwas von uns abgeben, uns ein Stück zurücknehmen. Aber die Arbeit in einer Kooperation lohnt sich: Wir können zusammen eine höhere Wirkung erzielen und gemeinsam einen größeren Beitrag leisten.
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Die Open Industry 4.0 Alliance (OI4)
will eine nahtlose Zusammenarbeit von Maschinen, Geräten und Software unterschiedlicher Hersteller gewährleisten. In der 2019 gegründeten Organisation haben sich Unternehmen zusammengeschlossen, um die Interoperabilität der Komponenten industrieller Anlagen zu fördern und Integrationskosten zu senken. Sie entwickeln dazu in Arbeitsgruppen unter anderem einen gemeinsamen technischen Rahmen, in dem Geräteanbindungen, Edge-Computing und Cloud-
Integration möglich sind. Auf Basis vorhandener Standards wie beispielsweise der Asset Administration Shell (AAS) sollen so Schnittstellen und Referenzlösungen geschaffen werden. Zu den Gründungsunternehmen gehören Endress+Hauser, SAP, Beckhoff, Hilscher, ifm, KUKA und Multivac. Heute zählt die OI4 mehr als 130 internationale Mitglieder und Partner.
Stimmt der Eindruck, dass die Prozessindustrie in ihrer Gesamtheit bei der Digitalisierung recht langsam vorankommt?
Ekrem Yigitdöl: Nein, das sehe ich im Vergleich zum Maschinenbau oder zur diskreten Fertigung nicht. Wir erkennen, dass die Unternehmen genau wissen, was sie wollen und brauchen. Das erklärt sich aus ihrer Geschichte: Die Prozessindustrie hat schon immer mit unterschiedlichsten Systemen gearbeitet. Sie besitzt Erfahrung darin, diese zu vernetzen und dabei zu kooperieren. Da schlummert also ein großes Potenzial.
Peter Selders: Der Eindruck, dass es langsam vorangeht, stimmt nur, wenn man die spezifischen Randbedingungen außer Acht lässt – und wenn man losgelöst die Digitalisierung der Prozesstechnik betrachtet. Unsere Kunden tun viel im Bereich digitaler Technologien. Wir haben in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei Interoperabilität, Konnektivität und Cybersicherheit erzielt. Jetzt ist es auch an uns, sie mit unseren Anwendungen und Dienstleistungen zu überzeugen.
Herr Yigitdöl, wie hat sich die Allianz seit der Gründung entwickelt?
Ekrem Yigitdöl: Wir sind mittlerweile eine internationale Organisation, mit Unternehmen aus aktuell 13 Nationen. Gestartet sind wir als ein Verein auf ehrenamtlicher Basis. Als wir schnell wuchsen, wurde uns klar, dass wir professionelle Strukturen benötigen. Nur so können wir unseren Mitgliedern dabei helfen, die Digitalisierung in die konkrete Anwendung zu bringen. Und genau das ist unsere Kernaufgabe.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Ekrem Yigitdöl: Nehmen wir die Implementierung der Open Edge Computing Guideline, mit der Grundlagen der Digitalisierung ermöglicht werden. Unternehmen, die diesen Schritt gehen, müssen sich vorab die Frage stellen, ob bei allen Prozessen auf dieser Plattform die Compliance-Richtlinien eingehalten werden, zum Beispiel im kritischen Bereich der Cybersecurity. Es ist eine Sache, diese Prüfung auf dem Papier vorzunehmen. Wir als Allianz bieten ein Compliance-Team aus Technikern, das im Rahmen eines Hackathons prüft, ob die Richtlinien auch in der Praxis eingehalten werden. Zuletzt haben zwei Unternehmen diese Prüfung bestanden, ein KMU und eines der größten Unternehmen Deutschlands. Was zeigt: Die Allianz ist für Akteure jeglicher Größe da.
Angenommen, die Digitalisierung wird eines Tages auch in der Industrie zum Selbstläufer. Hätte sich die Allianz dann überflüssig gemacht?
Peter Selders: Nein, aber sie könnte ihren Fokus verschieben. Wenn Themen wie Konnektivität, Cybersecurity und Datensouveränität erst einmal weit vorangeschritten sind, können wir uns beispielsweise auf KI-Anwendungen auf dem Shopfloor konzentrieren.
Ekrem Yigitdöl: Das sehe ich genauso. Darin liegt ja auch der Reiz an der digitalen Transformation: Ein Ende ist nicht abzusehen. Es gibt immer neue Chancen und Möglichkeiten.